Arbeitswelt und Gewerkschaften
In den Jahren sozialdemokratischer Hegemonie, in denen die Histadrut viel mehr als eine Gewerkschaft, nämlich eine allumfassende Institution war („der Staat vor dem Staat“ und ab 1948 „der Staat im Staat“), wurde der Tag der Arbeit, der 1. Mai, im ganzen Land gefeiert. Rote Fahnen wurden gehisst, Kundgebungen unter Federführung der Histadrut durchgeführt, und natürlich war es ein arbeits- und schulfreier Tag. Mit der Integration Israels in eine rein kapitalistische Wirtschaftsordnung und der Schwächung der Gewerkschaften verlor seit Ende der 1970-er Jahre dieser besondere Tag immer mehr an Bedeutung. Mit der Konsolidierung der Histadrut im vergangenen Jahrzehnt gab es auch ein bescheidenes Comeback des 1. Mai. Feierliche Maiaufmärsche mit Kundgebungen unter Teilnahme der Gewerkschaftsspitze sind wieder zum gewohnten Bild geworden.
Doch dieses Jahr ist alles anders: Das schreckliche Massaker vom 7. Oktober und der Krieg machen normale Feiern unmöglich. Über dem Land liegt ein Schleier von Depression und Trauer. Solange die 128 in den Gazastreifen verschleppten Geiseln nicht frei sind und die zigtausenden Menschen, die im Norden wie auch im Süden ihre Häuser verlassen mussten wieder zurückgekehrt sind, sind Tage der Freude, wie es der Tag der Arbeit sein soll, unangemessen. Die Histadrut hielt nur eine bescheidene 1. Mai-Konferenz ab, die auch im Zeichen des 7. Oktober stand. Unter dem Titel “Wir errichten von neuem den Sozialstaat“ diskutierten Gewerkschafter_innen sowie Vertreter_innen der Zivilgesellschaft und der Kibbutzbewegung über einen notwendigen Wiederaufbau sozialer Dienstleistungssysteme. Gerade der 7.Oktober hat gezeigt, wie wichtig öffentliche Einrichtungen sind. Zigtausende Menschen benötigen in Zeiten wie diesen soziale und psychologische Betreuung, doch zeigte sich leider, dass die öffentliche Hand diesem Bedarf nicht gewachsen ist. Es fehlen Fachkräfte in der psychosozialen Betreuung, was zu Überforderung und zu Erschöpfung unter den im öffentlichen Sektor beschäftigten Kolleg_innen führt. Das Rettungsnetz spannten auch diesmal wieder zivilgesellschaftliche Organisationen auf, die sich größtenteils durch Spenden finanzieren. Das darf nicht sein! Ein moderner Staat muss für seine Bürger_innen da sein und ihnen in einer Situation des unerträglichen Leides, das sie nicht selbst verschuldet haben, Sicherheit bieten. Deshalb war das Credo der Veranstaltung klar: Die Rückkehr des Sozialstaates ist erforderlich, und die Histadrut tritt dafür ein, dass dieser Prozess schleunigst vorangetrieben wird.
Anlässlich des 1. Mai trafen wir uns in einer Weinbar in Tel Aviv, um das Almuni-Forum für Absolvent_innen der Jugenddelegationen nach Deutschland zu eröffnen. Etwa 30 junge Kolleg_innen aus verschiedenen Delegationen, die in den letzten Jahren nach Deutschland gereist waren, kamen zusammen. Neben der Freude über das Wiedersehen bekamen die Teilnehmenden einen Einblick in die Vision, die Ziele und die kommenden Veranstaltungen des Forums.
Die Hauptidee ist es, ein Forum und eine Plattform zu schaffen, um einen kontinuierlichen Dialog, gegenseitiges Verständnis und Zusammenarbeit zwischen den jungen Gewerkschaftsmitgliedern, die an den Delegationen in Deutschland teilgenommen haben, und unseren deutschen Kolleg_innen zu entwickeln.
Zu den anstehenden Veranstaltungen gehören neben Seminaren das 50-jährige Jubiläum der Unterzeichnung des Partnerschaftsvertrages zwischen Histadrut und DGB, die Aus- und Weiterbildung von Delegationsleiter_innen zur inhaltlichen Gestaltung von Delegationsreisen und vieles mehr.
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Gesellschaft und Politik
Am 14. Mai feierte Israel seinen 76. Geburtstag. Dieser Freudentag ist Teil eines Feiertagszyklus, der mit dem Yom HaShoa, dem Tag des Gedenkens an die Opfer der Shoa und der Ehrung des jüdischen Widerstandes beginnt. Genau eine Woche danach begeht man den Gedenktag für Israels gefallene Soldaten und Sicherheitskräfte sowie die zivilen Opfer von Terror. Erst danach, und im nahtlosen Übergang dazu, wird der Unabhängigkeitstag gefeiert. Ein sinnvolles, würdiges und sehr emotionales Ritual, das sich von Jahr zu Jahr wiederholt. Doch dieses Jahr ist ein besonderes Jahr: Die furchtbaren Ereignisse des 7. Oktober und der darauffolgende Krieg, der bis heute andauert, führen dazu, dass die Trauer über das größte Unglück für das jüdische Volk seit der Shoa jede Freude überschattet. Es gibt in Israel kaum jemanden, der nicht direkt oder indirekt von der Katastrophe betroffen ist. Aus diesem Grund war der Unabhängigkeitstag der Stärkung der Gesellschaft und dem Wiederaufbau des Landes gewidmet. Doch in erster Linie ist es die Solidarität mit den in den Gazastreifen entführten Geiseln und deren Familien, die jede echte Freude unmöglich macht. Die Sorge um die seit über 229 Tagen als Gefangene in den Terrortunneln der Hamas Festgehaltenen, darunter Kinder und Überlebende der Shoa, nicht wissend, wie viele von ihnen noch am Leben sind, prägen die Stimmung im Land. Dazu kommen die 1.500 Ermordeten und die fast 12.000 Verwundeten des Massakers, zehntausende Menschen, die durch Evakuierungen aus den Grenzgebieten zu Flüchtlingen in der eigenen Heimat wurden, sowie die im Kampf täglich zu beklagenden gefallenen und verwundeten Soldat_innen. Und all das mit einem Ministerpräsidenten, der keinen strategischen Plan für die Zukunft Israels zu haben scheint. Die Mehrheit der Israelis wünscht sich einen politischen Neuanfang, der Hoffnung mit sich bringt. Der Lichtblick ist die Zivilgesellschaft des Landes. Sie ist engagiert und stark und wächst beständig. Anlässlich des 76. Unabhängigkeitstages veröffentliche das Statistischen Zentralamtes neue Zahlen: Demnach beläuft sich die Bevölkerung Israels auf 9,9 Millionen Menschen, davon sind 73,2 Prozent Juden, 21,1 Prozent Araber und 5,7 Prozent, die unter die Kategorie “Andere” fallen. Bleibt zu hoffen, dass diese zehn Millionen Bürger_innen den 77. Geburtstag Israels in einer optimistischeren Atmosphäre werden feiern können.
Jeden Samstag demonstrieren zehntausende Israelis gemeinsam mit den Familien der Angehörigen der Geiseln für deren Freilassung. Die Forderung richtet sich an die israelische Regierung und insbesondere an Ministerpräsident Netanyahu. Von ihm wird erwartet, sich auf eine Vereinbarung mit der Hamas einzulassen, selbst wenn dafür ein sehr hoher Preis zu zahlen ist. Doch oberste Priorität muss das Leben der eigenen Zivilisten sein, die am Morgen des 7. Oktober aus ihren Betten in den Gaza-Streifen verschleppt wurden. Dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass der Premier diese Thematik nicht mit dem erforderlichen Nachdruck verfolgt. Deshalb sehen viele seine Ablösung als absolut notwendigen Schritt an, und das umso mehr, als Netanyahu selbst bisher keine eigene Verantwortung für Fehler im Vorfeld des Massakers am 7. Oktober übernommen hat. Der Ruf nach Neuwahlen wird also ständig lauter, und seit einigen Wochen hat sich diesem auch der Vorsitzende der Histadrut, Arnon Bar David, angeschlossen. Bei mehreren Gelegenheiten und in verschiedenen Interviews sprach er der Regierung sein Misstrauen aus. Niemand wisse, wohin die Regierung den Staat Israel führe. Wenn überhaupt Entscheidungen gefällt würden, seien sie unprofessionell, und das gelte für alle Lebensbereiche. Die Verantwortung für die größte Katastrophe Israels seit der Staatsgründung laste auch auf den Schultern der Regierung, doch es sei nicht zu erkennen, dass diese bereit sei, dafür Verantwortung zu übernehmen. Bar David betonte, dass er in engem Kontakt zu der Protestbewegung und den Familien entführter Geiseln stehe. Dennoch glaube er, dass zu diesem Zeitpunkt ein Generalstreik als Druckmittel auf die Regierung, wie er von manchen gefordert wird, eher schaden als nutzen würde. Allerdings wäre ein solcher Schritt dann gerechtfertigt, wenn ein Geiseldeal einzig und allein an der Weigerung der Regierung scheitern würde. Doch leider gibt es auch eine andere Seite, nämlich die Terrororganisation Hamas, die sich einer akzeptablen Vereinbarung verwehrt. Zum Thema siehe auch https://global.histadrut.org.il/news/bar-david-calls-for-elections-in-february-2025-six-months-into-the-war-the-government-needs-to-reach-decisions/
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Gedenken und Vermächtnis
Wie wird die Erinnerung an die Shoa an dem Tag aussehen, an dem die Überlebenden nicht mehr unter uns sind? Wie werden sich die vierte und fünfte Generation, von denen die meisten nie eine/n Holocaust-Überlebende/n kennengelernt haben, an die Geschichten aus dieser Zeit erinnern?
Gedenken im Wohnzimmer ist eine private Initiative von Menschen, die beschlossen haben, Verantwortung zu übernehmen und Maßnahmen zu ergreifen, um die Erinnerung an die Shoa wachzuhalten und eine neue, intime und bedeutungsvolle israelische Tradition für den Holocaust-Gedenktag zu schaffen.
Tausende Gastgeber_innen und Gäste in Israel und auf der ganzen Welt begehen dabei den Yom HaShoah gemeinsam im Wohnzimmer in einer intimen und bedeutungsvollen Zusammenkunft. Das Gedenken im Wohnzimmer hat sich von einer spontanen Initiative zu einer großen Gemeinschaftsaktion entwickelt. Hinter der Initiative stehen engagierte Freiwillige, die dabei helfen, Zeitzeug_innen in einer vertrauensvollen Atmosphäre eine Stimme zu verleihen. Sie setzen sich auf vielfältige Weise dafür ein, dass diese neue Initiative zur Tradition wird und die Erinnerungen an die Shoa ihre Bedeutung bewahrt.
In diesem Jahr haben wir als Alumni-Forum des israelisch-deutschen Austauschprogrammes der Gewerkschaften beschlossen, zusätzlich zu der offiziellen Zeremonie in der Histadrut, die jedes Jahr von den Kolleg_innen, die mit einer Delegation nach Polen reisen, abgehalten wird, auch an dieser teilzunehmen. Wir wollen dies zu einer Tradition in unserem Netzwerk zu machen.
Darüber hinaus haben wir ehemalige Teilnehmende unseres Austauschprogrammes eingeladen, um mit Clila Bau zusammenzukommen. Sie ist die Tochter von Josef und Rebeka Bau und empfängt regelmäßig Delegationen aus Deutschland für ein Gespräch in ihrem Studio in Tel Aviv.
Die Frage, wie sich die nächsten Generationen an die Shoa erinnern werden, ist natürlich auch im Rahmen der Delegationsaustauschmaßnahmen ein wichtiges Thema. Auch wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns weiterentwickeln und erinnern möchten.
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Meilensteine der israelisch-deutschen Beziehungen – Mai
1953: Israel eröffnet ein Vertretungsbüro in Köln, und ein deutsches Visabüro wird in Israel eingerichtet. Das Büro in Köln dient der Verschiffung von “Entschädigungswaren” an israelische Firmen.
1960: Bundeskanzler Adenauer trifft Ministerpräsidenten Ben Gurion in New York. Die beiden tauschen sich über zukünftige wirtschaftliche Beziehungen und über (geheime) militärische Kooperation zwischen den beiden Staaten aus.
1965: Austausch diplomatischer Noten zwischen Bundeskanzler Erhard und Ministerpräsidenten Levi Eschkol über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der BRD und Israel.
1988: Das Segelschulschiff “Gorch Fock” legt in Haifa an. Es ist das erste Mal, dass eine Einheit der Bundeswehr den jüdischen Staat einen Besuch abstattet. Der Besuch erregt kaum Aufmerksamkeit in den israelischen Medien. “Das Fehlen der Aufregung kann als positives Resultat gewertet werden”, erklärt ein deutscher Diplomat.
1990: Anlässlich 25 Jahre seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, schreibt die “Jerusalem Post“: „Nach den USA ist die BRD unser bester Freund“.
1993: Der Bundestag verabschiedet ein Gesetz, das es deutschen Firmen verbietet, Anti-Israel Boykott Klauseln in Verträgen mit arabischen Geschäftspartnern zu verankern.
2006: Zwei FDP und ein SPD-Abgeordneter lösen eine Kontroverse aus, nachdem sie den palästinensischen Hamas-Minister für Flüchtlinge, Atef Adwan, zu einem “privaten, inoffiziellen Gedankenaustausch“ empfangen haben. Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier kritisieren die Politiker für die Aushöhlung des EU-Konsensus, der jeglichen Kontakt mit der Hamas verbietet.
2008: Anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung Israels, finden eine Reihe von Veranstaltungen in Deutschland statt. Der Bundestag hält eine 90-minütige Sondersitzung ab.
2012: Laut einer Umfrage des “Stern”, meinen 70 Prozent der Befragten, dass Israel seine eigenen Interessen ohne jegliche Rücksichtnahme auf andere Völker wahrnimmt. 59 Prozent meinen, Israel sei „aggressiv“. Nur 36 Prozent finden Israel “sympathisch”. 13 Prozent glauben, Israel hätte kein Existenzrecht. 60 Prozent geben an, Deutschland hätte keine besondere Verantwortung gegenüber Israel.
2015: 300 junge Multiplikator_innen reisen nach Berlin zum deutsch-israelischen Jugendkongress, der von ConAct organisiert wurde. Der Höhepunkt der Veranstaltung ist ein Besuch der Staatspräsidenten beider Länder, Reuven Rivlin und Joachim Gauck.
2023: Eine Delegation der Histadrut nimmt auf Einladung des DGB am EGB-Kongress in Berlin teil, darunter auch Vertreter_innen der jungen Generation.
Erstellt für die Histadrut von Micky Drill, Gewerkschaftsreferent der FES-Israel
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Ashes of the past
Responsibility at present
Commitment to the future