Arbeitswelt und Gewerkschaften
Am 19. März wurde weltweit der internationale Tag der Sozialarbeit begangen. Die Gewerkschaft der Sozialarbeiter_innen in der Histadrut nutzte dieses Datum, um die Öffentlichkeit über die wichtige Arbeit der Kolleg_innen zu informieren, und die schwierige Situation, in der sie sich zur Zeit befinden, mit Zahlen zu untermauern. Stellen von Sozialarbeiter_innen im öffentlichen Dienst (zu 90% Frauen), waren seit eh und je unterbesetzt, doch seit dem grauenhaften Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober letzten Jahres, sind die Herausforderungen kaum noch zu bewältigen. Es gibt tausende Familien, die direkt oder indirekt betroffen sind – angefangen von Überlebenden, Verwundeten, Familien der Opfer und Geiseln, bis hin zu denjenigen, die aus ihren Häusern evakuiert werden mussten. Laut der Gewerkschaft muss besonders Augenmerk auf die Opfer sexualisierter Gewalt gelegt werden. Betreut werden müssen hier nicht nur die überlebenden Opfer oder die Zeugen der Missbrauchs-Vorfälle des 7. Oktober bzw. der aus Geiselhaft freigelassenen Frauen. Dieser vielleicht schrecklichste Tag in der modernen israelischen Geschichte war gleichzeitig der Auslöser für Posttraumata von Menschen früherer Gewalt, die bis heute geschwiegen haben. Allein seit Oktober ist die Zahl der Hilfesuchenden, die sich an die Sozialämter gewandt haben, um 33% gestiegen. Im Mai 2022 hatte eine Sozialarbeiterin im Durchschnitt nur 9 Minuten und 50 Sekunden pro Woche zur Verfügung, um sich einem Opfer sexualisierter Gewalt widmen zu können – heute handelt es sich um noch wesentlich weniger.
Landesweit gibt es tausende offene Stellen für Sozialarbeiter_innen, doch die schlechte Bezahlung hält viele davon ab, diesen Beruf zu wählen. Dies wiederum führt zu einer Überlastung der Kolleg_innen im öffentlichen Dienst – viele von ihnen selbst Betroffene des Krieges. Der Druck ist oft so groß, dass sie einfach aufhören – dies natürlich zu Lasten der Verbleibenden.
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, hat der Vorsitzende der Histadrut, Arnon Bar David, ein Dringlichkeitsschreiben an den Sozialminister geschickt. Er beschreibt darin das kollektive Trauma der israelischen Gesellschaft nach dem 7.Oktober, das alle Bürger_innen betrifft. Allen Voran jedoch die schwächsten Gruppen, wie Arme, physisch oder psychisch Behinderte, oder sozial benachteiligte Menschen. All jene benötigen heute mehr denn je professionelle Sozialarbeiter_innen. Die Forderungen der Histadrut an die Regierung sind klar: mehr Sozialarbeiter_innen, bessere Ausbildung und eine den Herausforderungen dieses Berufes angemessene Entlohnung. Denn an der Heilung Israels nach dem Krieg werden die Sozialarbeiter_innen mindestens genauso beteiligt sein müssen, wie etwa die Politiker_innen, oder die Vertreter_innen der Wirtschaft.
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Erstmals in der Geschichte des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Israel wurde ein Tarifvertrag zwischen der Büroleitung, den Mitarbeiter_innen (Ortskräfte) und der Histadrut unterzeichnet. Die Verhandlungen wurden vom Histadrut-Bezirk Tel Aviv in enger Absprache mit dem Betriebsrat der FES-Israel durchgeführt. Das Abkommen sichert den Kolleg_innen soziale Errungenschaften und den Rückhalt des starken Gewerkschaftsbundes Histadrut. Wir sind stolz, dass die enge Kooperation zwischen Histadrut und FES dazu führte, dass die Prinzipien der FES als internationale Vertreterin des DGB auch vor Ort konkrete Anwendung finden.
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Gesellschaft und Politik
Das israelische Sicherheitskabinett hat diese Woche über den sogenannten Geiseldeal und über einen Rückzug der Streitkräfte aus der Stadt Khan Younes beraten. Es wird davon ausgegangen, dass Hamas auch diesmal das von den USA eingebrachte Angebot ablehnen wird, sowie sie es bereits vor einigen Wochen mit dem ägyptischen Vorschlag tat.
Regierungschef Benjamin Netanyahu hält nach eigenen Worten grundsätzlich daran fest, die Militäroffensive auf die Grenzstadt Rafah auszuweiten. Unklar bleibt, wann die Bodentruppen vordringen werden, und wie die israelischen Pläne für die dorthin aus dem Rest des Gazastreifens Geflohenen, sowie für die Linderung der humanitären Krise, aussehen.
Netanyahus Worten schloss sich auch Minister Benny Gantz, auch er Mitglied des Sicherheitskabinetts an, der zum Rückzug aus Khan Younes – und zu Rafah – Stellung nahm: “Der Sieg wird schrittweise erreicht. Wir nähern uns ihn an und werden nicht halt machen. Wir werden in Rafah einmarschieren, werden nach Kahan Younes zurückkehren – und wir werden in Gaza City tätig sein. Die IDF wird überall dort handeln, wo sich Terrorinfrastrukturen befinden.“ Unsere militärische Handlungsfreiheit im Gazastreifen bleibt bestehen und kommt immer dann zur Anwendung, wenn das notwendig ist.”
Während Israel erklärt, es gebe keinen Sieg über die Hamas und keine Befreiung der Geiseln ohne Angriff auf die Grenzstadt Rafah, forderte US-Präsident Joe Biden Israel in ungewohnt scharfem Ton dazu auf, von einer Bodenoffensive abzusehen.
Darüber hinaus nahm die USA zur humanitären Krise Stellung. Gemeinsam mit Deutschland und weiteren Staaten wurden Nahrungsmittelpakete aus der Luft abgeworfen. Weiters gibt es US-amerikanische und internationale Forderungen von Israel, mehr Hilfsgüter in den Gazastreifen einführen zu lassen, und die Zahl der Verteilungszentren zu erhöhen.
Gleichzeitig wächst in Israel die Verzweiflung der Angehörigen der 133 Kinder, Frauen und Männer, die immer noch im Gazastreifen festgehalten werden. Schätzungen gehen davon aus, dass inzwischen weniger als 70 Geiseln am Leben sind, wobei der zurzeit verhandelte Deal von 40, sogenannten humanitären Fällen (Frauen, Kinder, Senioren, Kranke, Verwundete), handelt.
Israel durchläuft eine schwierige Zeit. Die Situation der Geiseln ist unklar, ebenso wie die Chancen auf einen Deal mit der Hamas über deren Freilassung, und all das kurz vor dem Freiheitsfest Pessach, das in weniger als zwei Wochen begangen wird.
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Gedenken und Vermächtnis
Niemals seit der Shoah war die Welt so offen antisemitisch, wie seit dem 7. Oktober. Bereits bis zu diesem Datum gab es einen Anstieg von 10% an gemeldeten antisemitischen Vorfällen in der freien Welt, doch danach hat sich diese Zahl versechsfacht. Das bedeutet, dass es 2023 im Vergleich zu 2022 nach Zahlen, die von der Knesset veröffentlicht wurden, einen Anstieg antijüdischer Übergriffe um 235% gab.43% der Übergriffefanden in den USA und 35% in Europa statt. Die Vorfälle physischer Gewalt nahmen weltweit in nur einem Jahr um 33% zu, in den USA um 46%, in Großbritannien um 16% und in Deutschland um 9%. Dabei dürften die tatsächlichen Zahlen wesentlich höher sein, denn nach Schätzungen werden nur etwa 20% solcher Fälle polizeilich gemeldet. Besonders erschütternd: In der jüdischen Diaspora wurden 2023 sechs Juden auf Grund ihrer jüdischen Identität ermordet. Besonders anfällig für Antisemitismus scheinen junge Menschen zu sein: in Deutschland etwa berichteten jüdische Studierende über eine nie zuvor gefühlte Hasswelle gegen sie. 80% sagten, sie fühlen sich unsicher, ihr Judentum nach außen zu zeigen, etwa durch das Tragen einer Kippa oder eines Davidsterns. Laut Bericht des relevanten Komitees in der Knesset, gab es an den deutschen Unis im Jahre 2023 im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg von 320% von antisemitischen Vorfällen. Judenhass und Holocaustleugnung, oftmals unter dem Deckmantel von Antizionismus, wird mittels digitaler Medien ständig und unkontrollierbar verbreitet: So stieg die Zahl der Posts mit antisemitischem Inhalt seit dem 7. Oktober um 1200%. 79% dieser Posts waren in arabischer Sprache.
Das sind die traurigen und trockenen Fakten – nun drei kurze Beispiele der letzten Wochen aus Europa:
Schweiz– im Skiort Davos hat ein Bergrestaurant vorübergehend angekündigt, keine Ski oder Schlitten mehr an Jüdinnen und Juden verleihen zu wollen:
Italien – Antisemitische Ausfälle beim Römer Fußballderby:
Großbritannien – Boykottdrohungen weil möglicherweise ein jüdischer Schauspieler der nächste James Bond-Darsteller sein könnte:
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Meilensteine der israelisch-deutschen Beziehungen – März-April
1957 – Die erste Delegation des DGB-Bundesvorstandes besucht auf Einladung der Histadrut Israel.
1957 – SPD-Vorsitzender Erich Ollenhauer besucht als erster deutscher Politiker Israel.
1960 – Erste Gruppe von Freiwilligen aus Deutschland in einem Kibbutz.
1960 – Beginn des Eichmann-Prozesses.
1965 – Abstimmung im israelischen Parlament (Knesset) über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der BRD: 66-Ja, 29-Nein, 10-Enthaltungen.
1987 – Erster Staatsbesuch eines israelischen Staatspräsidenten in der Bundesrepublik (Chaim Herzog, der Vater des zurzeit amtierenden Präsidenten Itzhak Herzog).
2008 – Erste gemeinsame deutsch-israelische Regierungskonsultation. Bundeskanzlerin Merkel erklärt in einer Rede vor der Knesset, dass die Verantwortung für Israels Sicherheit für die Bundesrepublik Staatsräson sei.
2023 – Im Rahmen einer Feierstunde in der Zentrale der Histadrut in Tel Aviv, bekräftigt der Bundesjugendausschuss des DGB die Solidarität der deutschen Gewerkschaften mit Israel und der Histadrut.
Erstellt für die Histadrut von Micky Drill, Gewerkschaftsreferent der FES-Israel
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Ashes of the past
Responsibility at present
Commitment to the future