Arbeitswelt und Gewerkschaften
Israel ist ein Land der Widersprüche. Auf der einen Seite eine große religiöse Bevölkerung, verhaftet in, für Außenstehende, oft nicht zeitgerechten Regeln und Traditionen – auf der anderen Seite, die sogenannte “Tel Aviver Blase”, eine offene, freie, liberale Gesellschaft und Kultur. Die Histadrut ist eine der wenigen Institutionen im Land, der es gelingt, Vertreter_innen von so konträren Werten unter einem Hut zu bringen. Im Repräsentantenhaus, sowie im Vorstand der Gewerkschaft gibt es eine allumfassende Koalition, die vom ultraorthodoxen bis hin zum kommunistischen Spektrum reicht. Das kann deshalb funktionieren, weil alle den Werten von Demokratie, Toleranz und Gleichberechtigung verpflichtet sind. Ein prägnantes Beispiel dazu ist das Engagement der Histadrut im internationalen LGBTQ-Monat, Juni. Während in den Straßen Tel Avivs (und auch anderer Städte, darunter Jerusalem), Zehntausende die Love Parade feierten, wehten die Pride-Fahnen an der Histadrut-Zentrale. Infomaterial, darunter ein Clip, der gegen Diskriminierung von Mitgliedern der LGBTQ-Community am Arbeitsplatz aufruft, wurde produziert, doch am Wichtigsten – die Histadrut gründete eine eigene Abteilung, dessen Aufgabe es ist, die Werte von Sozialer- sowie Geschlechtergerechtigkeit in die Öffentlichkeit zu tragen. Der Startschuss, der vom Vorsitzenden Arnon Bar David, im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung gegeben wurde, war eine großangelegte Kampagne für die LSB’s in den Betrieben des Landes. Denn laut einer zuletzt veröffentlichten Umfrage, leidet jede/r fünfte betroffene Arbeitnehmer_in unter Diskriminierung am Arbeitsplatz. Siehe https://global.histadrut.org.il/news/pride-month-an-opportunity-to-reflect/
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Gesellschaft und Politik
Israel steht in diesen Tagen vor einer innenpolitischen Zerreißprobe. Die rechts-religiöse Regierung unter Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu investierte bislang fast ihre gesamte Energie und ihre zeitlichen Ressourcen im Umkrempeln des Justizsystems. Im Mittelpunkt dieser Reform steht eine Schwächung des Obersten Gerichtshofes, der mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht zu vergleichen ist. Durch diese Schritte sollen Legislative und Exekutive vor “unangemessener Einmischung des Gerichtes in politische Entscheidungen”, wie es die Befürworter_innen dieser Reform nennen, geschützt werden. Kritiker_innen befürchten jedoch eine de facto Beschneidung des demokratischen Systems, ähnlich wie in Ungarn oder Polen. Die Entrüstung über den Versuch, die Judikative zu politisieren, führte zu monatelangen Massenprotesten, an denen sich jeden Samstag hundertausende von Israelis beteiligten. Doch erst der Ende März von der Histadrut ausgerufene Generalstreik führte zu einem Einfrieren der geplanten Gesetzesreform. Stattdessen begannen Gespräche unter der Schirmherrschaft von Staatspräsident Herzog zwischen Koalition und Opposition, mit der Absicht, sich auf eine beschränkte, auf Konsensus basierende Justizreform, zu einigen. Noch laufen die Verhandlungen, und ein Ende ist noch nicht abzusehen – doch eines ist klar: das liberale Lager wird einem Abbau der Demokratie nicht zustimmen. Dies hat auch Histadrut-Vorsitzender Arnon Bar David mehrmals öffentlich betont. Anstatt an den Grundfesten der israelischen Demokratie zu rütteln, soll die Regierung daran arbeiten, die völlig überlasteten Gerichte durch Richterernennungen zu entlasten. Das Verhalten der Regierung führe nicht nur zu gesellschaftspolitischen Spannungen, sondern zeige sich bereits durch negative Entwicklungen in der israelischen Wirtschaft. Siehe: https://global.histadrut.org.il/news/judicial-upheaval-divides-nation-histadrut-chairman-calls-for-a-halt-to-protect-israeli-society/ .
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Das freie Gewerkschaften zwar eine Grundlage von Demokratie sind, aber Demokratie kein Selbstläufer ist, sehen wir in den letzten Jahren auf der ganzen Welt nur zu häufig. Auch hier ist internationale Solidarität von Demokrat_innen gefragt. Umso wichtiger war die Teilnahme einer Spitzendelegation des Histadrut-Bezirkes Tel Aviv am “Tag der Demokratie“ des DGB-NRW in Dortmund. Dort wurde das Selbstverständliche nochmals ausführlich betont – Die Gewerkschaften sehen sich in der Verantwortung, ihren Beitrag zum Ausbau und Erhalt der Demokratie zu leisten – als Krisenmanager, Mutmacher und Gestalter. Ob bei Tarifverhandlungen, im Betrieb oder – wie gerade in diesen Tagen in Israel – gegenüber der Politik: Wir setzen auf solidarische Antworten und ringen unermüdlich um einen guten Kompromiss.
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Photo by Bernd Röttgers
Gedenken und Vermächtnis
Zum zweiten Mal organisierte die Histadrut für ihre Mitarbeiter_innen eine Gedenkfahrt zu den ehemaligen Vernichtungslagern in Polen. Diese Initiative, die vom Geschäftsführer der Gewerkschaft ausging, erfreute sich großen Zulauf. Neben den Orten des Grauens besuchte die rund 30-köpfige Delegation, viele der Teilnehmenden zweite und dritte Generation von Shoah-Überlebenden, auch ehemalige jüdische Viertel in unterschiedlichen Regionen und Städten. Siehe: https://global.histadrut.org.il/news/histadrut-delegation-travels-to-poland-to-strengthen-the-memory-of-the-holocaust/
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Photo by Galit Dahari
Jedes Jahr nehmen tausende Israelis an solchen Gedenkreisen nach Polen teil. In den Schulen etwa, ist das integraler Teil des Lehrplanes der 11. Klassen. Doch seit vielen Jahren stoßen diese Delegationen in der polnischen Öffentlichkeit und Politik auf herbe Kritik. Die israelische Seite wird mit dem Vorwurf konfrontiert, Polen als Lande der Verbrecher zu verunglimpfen, während es doch selbst Opfer von NS-Deutschland war. Wie könne es sein, dass es zwischen Israel und Deutschland unzählige Partnerschaften, etwa im Jugendaustausch gibt, während es im Rahmen der Delegationen nach Polen so gut wie keine Begegnungen mit polnischen Jugendlichen gebe. Die polnische Regierung drängte auf “Zurechtrücken” des Bildes ihres Landes, etwa durch Teilnahme am Gestaltungsprozess der Schüler_innendelegationen. Da die israelische Seite dieser Forderung nicht zustimmte, kam es gleich im Anschluss an Covid zu einem Einfrieren aller offiziellen Polenreisen. Erst vor wenigen Wochen einigten sich beide Regierungen über die Wiederaufnahme der Programme, die nun neben Begegnungen zwischen polnischen und israelischen Schulklassen, auch mindestens einen Besuch einer Gedenkstätte der polnischen-nichtjüdischen Naziopfer beinhaltet. Dies wiederum erzeugte Kritik bei vielen Israelis, einschließlich bei führenden Historiker_innen und Pädagog_innen, und auch bei Yad VaShem, die der israelischen Regierung vorwerfen, realpolitische Interessen der historischen Wahrheit unterzuordnen. Dass die Krise zwischen beiden Ländern noch weit von einer Lösung entfernt zu sein scheint, zeigt auch der Fall der israelischen Vertreterin beim Eurovision Song Contest, Noa Kirel. Diese sagte, nachdem Israel von Polen den Höchstwert von zwölf Punkten erhielt, “zwölf Punkte von Polen zu erhalten, nachdem fast die gesamte Familie Kirel in der Shoah ermordet wurde – das ist ein Sieg”. Diese Aussage löste in Polen Entsetzen aus. Der stellvertretende polnische Außenminister twitterte etwa: “Die Tatsache, dass viele Israelis in Polen einen Helfer für die Verbrechen der Deutschen sehen, und nicht deren Opfer, ist oft ein Ergebnis von Unwissen.” Er sprach eine Einladung an Kirel aus, um “zu verstehen, warum sie über unsere Heimat so denkt, ihr unseren Schmerz zu vermitteln,…und mit eigenen Augen diejenigen Orte zu sehen, an denen Nazi-Deutschland grausamste Verbrechen an beide, Polen wie Juden durchführte”. Noa Kirel nahm die Einladung an, doch die Diskussion über die Rolle des polnischen Volkes während der Shoah ist damit noch lange nicht abgeschlossen.
Meilensteine der israelisch-deutschen Beziehungen – Juni
27. Juni 1957: Ministerpräsident David Ben Gurion ersucht die BRD “normale diplomatische Beziehungen“ mit Israel aufzunehmen: “Für uns hat Deutschland den Schritt in Richtung fairer und standhafter Beziehungen getätigt, indem es das Reparationsabkommen trotz arabischen Drucks erfüllt.“
5.-10. Juni 1967: Sechs-Tage-Krieg: Israel führt einen Präventivschlag gegen die benachbarten arabischen Staaten durch, die Israel abschotten, und mit Zerstörung bedrohen. Die Bundesrepublik bleibt offiziell neutral, liefert allerdings humanitäre Hilfe an Israel. Die DIG initiiert eine Found Raising Kampagne “Hilfe für Israel”, in dessen Rahmen sie 2,3 Millionen DM sammelt. Der DGB erwirbt Wertpapiere des Staates Israel in der Höhe von 3 Millionen DM. Der Berliner Senat spendet 100.000 DM für Israel.
7.-11. Juni 1973: Willy Brandt (SPD) besucht als erster deutscher Kanzler Israel.
27.Juni – 4.Juli 1976: Eine palästinensisch-deutsche Terrorgruppe entführt ein französisches Passagierflugzeug nach Uganda. Alle nichtjüdischen Passagiere werden freigelassen, während alle jüdischen Reisenden (auch wenn sie keine israelische Staatsbürgerschaft besaßen) gefangen gehalten werden. Israelische Spezialeinheiten befreien die Geiseln.
Juni 1978: In einem Gespräch mit dem saudischen Kronprinz Fahd ibn Abd al-Aziz, sagt Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), dass die Palästinenser ein “Recht auf Selbstbestimmung“ haben sollten. Diese Aussage verursacht Ärger in Israel. Außenminister Hans-Dietrich-Genscher wird nach Israel geschickt, um Schadensbegrenzung zu machen.
24.Juni 2015: Anlässlich des 50. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland, hält der Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, als fünfter deutscher Politiker eine Rede vor dem israelischen Parlament (Knesset).
Juni 2023 Delegationen:
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Photo by Bernd Röttgers
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Erstellt mit der Unterstützung von Micky Drill, Vertreter der FES in der Histadrut
Ashes of the past
Responsibility at present
Commitment to the future
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