Highlights– September 2023

Gary Kaplan
Sep 28, 2023

Arbeitswelt und Gewerkschaften

Eine der zentralen Aufgaben der Internationalen Abteilung der Histadrut ist es, Wissen und Erfahrungen anderer Gewerkschaftsbünde zu sammeln, um diese in die eigene Arbeit zu integrieren. Das funktioniert besonders gut in der intensiven Kooperation mit dem DGB. Allein im September gab es zwei deutsch-israelische Gewerkschaftsveranstaltungen, deren Lerneffekt nicht überschätzt werden kann:

Fast die gesamte Führungsspitze der Hans-Böckler-Stiftung, einschließlich Geschäftsführerin Dr. Claudia Bogedan, kamen nach Israel, um sich mit israelischen Partnern über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Arbeitsbeziehungen und die Zukunft der Arbeit auszutauschen. Dabei wurde den israelischen Kolleg_innen vor Augen geführt, welch zentrale Rolle die Gewerkschaften bei der Mitgestaltung des notwendigen Transformationsprozesses einnehmen können und sollen. Siehe: https://global.histadrut.org.il/news/there-are-no-good-jobs-on-a-dead-planet-histadrut-representatives-speak-on-the-impact-of-climate-change-on-labor-relations-and-the-future-of-work/ Über den hohen Stellenwert dieser Thematik im öffentlichen Diskurs konnten sich auch die 11 Kolleg_innen der Histadrut ein Bild machen, die eine 5-tägige Bildungsreise nach Deutschland durchführten, um aus erster Hand über das deutsche Modell der Unternehmensmitbestimmung zu lernen. Neben Gesprächen mit Vertreter_innen der Gewerkschaften und der HBS, besuchte die Delegation das BMAS, die BDA, sowie VW in Wolfsburg und ArcelorMittal in Eisenhüttenstadt. Die Gespräche vor Ort mit Betriebsräten, Aufsichtsräten und Arbeitsdirektoren ermöglichte Einblicke in die Praxis der Unternehmensdemokratie. Gespräche mit engagierten Politiker_innen, unter anderem mit Staatssekretärin Kerstin Griese, zeigten, welchen Konsensus die Mitbestimmung über weltanschauliche Differenzen hinweg, in der Politik genießt. In Gegensatz zu Deutschland schreibt das Gesetz in Israel nur im Fall von staatseigenen Unternehmen die Besetzung der Aufsichtsräte durch Arbeitnehmervertreter_innen vor (zwei Personen, egal wie groß der Betrieb ist). Eine Gesetzesreform scheint in der momentanen politischen Konstellation unrealistisch. Deshalb ist es nun die Herausforderung der Histadrut, die Arbeitgeberseite zu überzeugen, in den Tarifverträgen des privaten Sektors Klauseln einzubauen, die neben der betrieblichen Mitbestimmung (die gesetzlich verankert ist), auch Arbeitnehmer_innen im Aufsichtsrat zuzulassen. Die israelischen Kolleg_innen, alle erfahrene Unterhändler, erhielten bei ihrem Aufenthalt in Deutschland dafür eine ganze Reihe von Argumenten. Der Unterstützung der deutschen Partner können sie sich gewiss sein – alle, einschließlich die BDA, gaben ihre Bereitschaft kund, die Israelis in ihren Bemühungen zu unterstützen. Das sind gute Voraussetzungen für konkrete Fortschritte, geschaffen vom DGB und Kollegen Bernhard Schulz von der Fachabteilung Internationale und Europäische Gewerkschaftspolitik, der für das tolle Programm zeichnet. Siehe: https://global.histadrut.org.il/news/democracy-at-the-workplace-histadrut-delegation-visits-germany-to-learn-about-employee-participation-in-decision-making-in-the-workplace/

Hans-Böckler-Haus Berlin

Gesellschaft und Politik

Nachdem die Knesset im Juli ein Gesetz verabschiedete, das die Justizbefugnisse des Obersten Gerichtshofes empfindlich eingeschränkt hat, kamen alle 15 Richter_innen des de facto Verfassungsgerichtes zusammen, um die Rechtmäßigkeit des Gesetzes zu überprüfen. Die Beratungen könnten sich über Wochen ziehen und sollten die Richter die Regierungsentscheidung aufheben, droht dem Land damit eine historische Verfassungskrise. Davor warnt auch der Vorsitzende der Histadrut, Arnon Bar David, in einem Interview mit der größten Tageszeitung Israels, Yedioth Achronot. Unter der Überschrift “Ich werde das Land nicht zerstören lassen”, kritisiert er Netanyahus’ Politik aufs Schärfste. Er warnt vor Verfassungsänderungen, die nicht auf breiten Konsensus beruhen. Die für schon bald vorgesehene Umgestaltung des Ausschusses zur Ernennung von Richter_innen bezeichnet er als “verrückt”, und eine mögliche Nichtbefolgung von gerichtlichen Urteilen durch Vertreter_innen des Parlaments oder der Regierung, brächte für die Histadrut das Fass zum Überlaufen. Die Regierung solle sich in ihrer Arbeit auf die echten Herausforderungen, wie etwa auf die zunehmende Gewalt in der israelischen Gesellschaft, oder auf die schwierige wirtschaftliche Situation, konzentrieren. Es scheint, als ob Netanyahu nicht mehr wisse, wohin er Israel führe, die Geschichte werde über ihn richten. Gleichzeitig erklärt Bar David: “Ich werde die Zerstörung des Landes nicht zulassen, und in dem Moment, wo das zionistische Projekt und damit der Staat Israel angegriffen wird, werde ich handeln.” Siehe: https://global.histadrut.org.il/news/histadrut-chairman-urges-netanyahu-to-halt-legislation-amidst-national-unrest/

Im Interview bezieht sich der Gewerkschaftsvorsitzende auch auf die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel, die Israel sowohl als Nationalstaat des jüdischen Volkes, als auch als demokratischen Staat definiert. Das Dokument von 1948 bildet die Basis für eine Verfassung, und gilt nach wie vor als de facto Verfassung. “Ich werde nicht zulassen, dass die Unabhängigkeitserklärung angegriffen wird”, erklärt er. Um dieser Absicht Nachdruck zu verleihen, wurden Riesenposter dieses Dokumentes auf die Außenwände verschiedener Histadruteinrichtungen in allen Landesteilen gehängt.    

Histadrut HQ Tel Aviv

Gedenken und Vermächtnis

Es versteht sich von selbst, dass ein Besuch eines Mahnmales, oder eines ehemaligen Konzentrationslagers, ein integraler Programmpunkt jeder offiziellen Delegation der Histadrut nach Deutschland ist. Eine oft nur bescheidene Gedenkzeremonie, ein Lied, ein Gebet, ein Gedicht, ein paar Worte, die versuchen das Unaussprechbare in Sätze zu fassen – all das ist keine Pflichtübung, sondern das innere Bedürfnis eines jeden Juden, der deutschen Boden betritt. Es ist nicht nur eine Erwartung an uns selbst, sondern, so meint es wohl unser Unterbewusstsein, eine Erwartung der Opfer an deren Nachfahren, besonders dann, wenn sie aus Israel kommen. Wir vergessen nicht, liebe Vorfahren (oft auch eigene Familien), sondern wir sind es, die so etwas nie wieder zulassen werden. Am Israel Chai – das jüdische Volk lebt – der Staat Israel existiert, und es ist unsere Verantwortung, dass das auch weiterhin so bleibt.

So standen wir 11 Kolleg_innen aus Israel, die in Deutschland waren, um über Arbeitnehmervertreter_innen in Aufsichtsräten zu lernen, am Mahnmal Gleis 17 am Bahnhof Grunewald im Westen Berlins. Von hier aus wurden von Herbst 1941 bis Frühjahr 1942 ungefähr 10.000 deutsche Juden in Arbeits- und Konzentrationslager deportiert und größtenteils ermordet. Fahrtziele waren neben Riga und Warschau die Lager Auschwitz-Birkenau und Theresienstadt. Von den insgesamt über 50.000 Berliner Jüdinnen und Juden wurden über 30.000 vom Güterbahnhof Moabit und knapp 10.000 vom Anhalter Bahnhof mit Zügen der deutschen Reichsbahn deportiert. Eine bewegende Zeremonie, Gebete, erst schweigen, dann sprechen, dann das stolze Singen der israelischen Nationalhymne, HaTikva – die Hoffnung, dann zurück zum wartenden Autobus. Mit dabei von der Partie – unser guter Freund und Kollege Bernhard Schulz vom DGB, ein untrennbares Mitglied dieser Delegation, selbst oder vielleicht sogar besonders an diesem Ort. Danke, Bernhard, dass Du uns den Besuch am Mahnmal vorgeschlagen, und uns dorthin begleitet hast. Danke für den kompromisslosen Kampf der deutschen Gewerkschaften gegen Rassismus und Antisemitismus, Danke für eure Solidarität mit Israel und mit der Histadrut.    

Meilensteine der israelisch-deutschen Beziehungen – September

10.September 1952: Unterzeichnung des Abkommens zur sogenannten “Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“. Die Bundesrepublik verpflichtete sich zu Leistungen in Höhe von drei Milliarden DM an Israel als Erstattung der Eingliederungskosten für jüdische Flüchtlinge und 450 Millionen DM für die Jewish Claims Conference (JCC) zur Unterstützung von Jüdinnen und Juden außerhalb Israels innerhalb von 12 bis 14 Jahren. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass die Bundesrepublik Entschädigungsprogramme für Individualzahlungen an die betroffenen Opfer selbst gesetzlich regeln sollte, da diese durch die Zahlungen an Israel und die JCC nicht berührt wurden.

September 1967: Die Arabische Liga verabschiedet in Khartum ihre Erklärung zu den “Drei Neins“: Nein zu einem Frieden mit Israel, Nein zur Anerkennung Israels, Nein zu Verhandlungen mit Israel.

5. September 1972: Angriff palästinensischer Attentäter auf Mitglieder der israelischen Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 in München. Die Geiselnahme endete mit einem Blutbad. Elf Israelis wurden ermordet.

7.-8. September 1987: Yitzhak Rabin wird mit militärischen Ehren im Verteidigungsministerium in Bonn empfangen. Inhalt der Gespräche sind unter anderem militärische Kooperation. Rabin ist der erste israelische Verteidigungsminister, der in offizieller Funktion Deutschland besucht.

September 1991: Ein israelisches Konsulat wird in Berlin eröffnet. Konsul Mordechai Levi beschreibt als wichtigste Aufgabe der neuen Einrichtung, die Schließung der Informationslücke, die in den neuen Ländern bezüglich Israel besteht. Dies wolle man in enger Zusammenarbeit mit Bildungs- und Kultureinrichtungen, sowie mit Universitäten, Schulen und Kirchen tun.

21.-22. September 1999: Ehud Barak besucht als erster israelischer Staatschef die deutsche Regierung mit Sitz in Berlin. Gemeinsam mit Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), besucht er die Gedenkstätte Sachsenhausen, und fordert eine schnelle Abwicklung der Kompensationszahlungen für Naziopfer von Zwangsarbeit. Vertreter_innen von Regierung und Opposition signalisieren ihre Unterstützung für Barak – dies auch vor dem Hintergrund seiner Bemühungen für eine Wiederbelebung des Friedensprozesses.

September 2002: FDP-Politiker Jürgen Möllemann verteilt im Rahmen seines Wahlkampfes in NRW ein Flugblatt mit folgendem Inhalt: “…Ich fürchte, dass kaum jemand den Antisemiten, die es in Deutschland gibt, leider, die wir bekämpfen müssen, mehr Zulauf verschafft hat als Herr Scharon und in Deutschland ein Herr Friedman mit seiner intoleranten und gehässigen Art. Überheblich. Das geht so nicht…“. Damit waren das erste Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte ein Israeli (Sharon) und ein deutscher Jude (Friedman), das gemeinsame Ziel einer Wahlkampagne mit antisemitischem Unterton.  

September 2006: Der Bundestag stimmt mit großer Mehrheit einer Stationierung deutscher Truppen im Libanon im Rahmen einer UN-Mission zu. Das deutsche Kontigent umfasst 2.400 Soldat_innen, davon 1.500 Marineinfantrist_innen, dessen Aufgabe es ist, Waffenschmuggel in den Libanon zu verhindern. 

Erstellt mit der Unterstützung von Micky Drill, Vertreter der FES in der Histadrut

Ashes of the past

Responsibility at present

Commitment to the future