Arbeitswelt und Gewerkschaften
Trotz des Privatisierungswahns der letzten Jahrzehnte, unter dem die israelische Wirtschaft, und vor allem die Schwächsten in der Gesellschaft zu leiden hatten, ist der öffentliche Sektor des Landes nach wie vor stark. An die 600.000 Kolleg_innen, das sind rund 20 Prozent der Arbeitnehmer_innenschaft sind im öffentlichen Dienst beschäftigt. 26 Prozent der öffentlichen Ausgaben fließen in die Gehälter dieser Arbeitnehmergruppe, das sind um vier Prozent mehr als im OECD-Durchschnitt. Im Unterschied zu anderen Ländern ist der Öffentliche Dienst in Israel kein guter Arbeitgeber. Die Gehälter sind niedrig, die Arbeitszeiten lang, Karrieremöglichkeiten begrenzt. Ob das auch damit im Zusammenhang steht, dass 65 Prozent der Mitarbeiter_innen Frauen sind, ist wohl offensichtlich. Die Histadrut als gewerkschaftliche Vertreterin hat deshalb alle Hände voll zu tun, um für mehr Gerechtigkeit für die Betroffenen zu sorgen. Das führt schon hie und da zu Kampfmaßnahmen, bis hin zu Streik. In ihrem letzten Bericht über Israel kritisierte die OECD, dass Israel an dritter Stelle von hinten ist, was die Zahl der Streiktage pro Jahr betrifft. Die israelische Wirtschaft habe zwischen 2008 und 2018 doppelt so viele Tage “verschwendet”, wie Italien, und vier Mal so viel wie Großbritannien. Die Histadrut liebt keine Streiks, und verwendet dieses Mittel tatsächlich nur dann, wenn es wirklich keine Alternative dazu gibt. Das es jedoch auch ganz anders gehen kann, beweist das neue Mantelabkommen, das vor wenigen Tagen zwischen der Histadrut und dem Finanzministerium unterschrieben wurde. Das Abkommen, das bis 2027 für sozialen Frieden sorgen soll, sieht neben bedeutenden Lohnerhöhungen (stufenweise Erhöhung von 11 Prozent bis 2027, 6.000 Shekel Pessachgeld jeweils im April), auch eine Verkürzung der Arbeitswoche von 42 zu 40 Stunden vor. Darüber hinaus beinhaltet das Packet unter anderem die Einrichtung eines Hilfefonds für Rentner_innen. Zweifelsohne ein großartiger Erfolg für die Histadrut und die israelische Arbeitnehmerschaft des öffentlichen Dienstes. Für Details über das Mantelabkommen siehe.
Gesellschaft und Politik
Juli war nicht nur ein verdammt heißer Monat was das Wetter betrifft – auch auf den Straßen Israels, der Knesset und den Medien kam kochendes Wasser zum überlaufen. Der Wunsch der rechtsreligiösen Regierungskoalition, den Umbau des Rechtssystems vorzunehmen (sie selbst nennen es Reform), hat zu einem der größten Protestwellen der Zivilgesellschaft in der Geschichte Israels geführt. Hunderttausende Bürger_innen, darunter auch gemäßigte Kräfte des konservativen und religiösen Lagers, demonstrieren Woche für Woche gegen den stufenweisen Abbau der Demokratie. Der Hartnäckigkeit dieser Menschen ist es wohl auch zu verdanken, dass die radikalsten Schritte dieser umstrittenen Justizreform, wie die Möglichkeit des Parlaments sich über Entscheidungen des höchsten Gerichtes hinwegzusetzen – auch dann, wenn es Grundrechte betrifft, oder eine Mehrheit der Regierung in der Kommission, die Richter_innen auswählt, vorläufig aufs Eis gelegt wurden. Nicht verhindert werden konnte allerdings die Verabschiedung eines Gesetzes, das dem Obersten Gericht die Möglichkeit nimmt, Entscheidungen des Kabinetts oder von Minister_innen als “nicht angemessen“ zurückzuweisen. Kritiker_innen sorgen sich, dass dies Korruption und damit auch die willkürliche Besetzung hochrangiger Posten begünstigen könnte. Überhaupt wird vermutet, dass Netanjahu mit der Reform eine Verurteilung in einem gegen ihn laufenden Korruptionsverfahren verhindern will.
Viele fürchten, dass das neue Gesetz nur der erste Schritt im Abbau der israelischen Demokratie ist – auf Grund des Fehlens einer Verfassung kommt dem Höchstgericht besondere Bedeutung zu. Neben Staatspräsident Herzog warnte auch die Histadrut vor einem verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch Israels und bemühte sich unaufhörlich um einen Kompromiss. Tatsächlich spielte Histadrut-Vorsitzender Arnon Bar David eine der Hauptrollen bei den vielen Lösungsversuchen dieser schweren innenpolitischer Krise. In den Tagen und Stunden vor der Abstimmung in der Knesset traf er mehrmals mit Staatspräsidenten, Ministerpräsidenten und Oppositionsführer zusammen. Die Histadrut legte sogar einen eigenen Kompromissvorschlag vor, der auf breiten Konsensus aller Teile der Gesellschaft basieren sollte. Leider wurde dieser von der Regierung abgelehnt.
Doch der Kampf um die Erhaltung der israelischen Demokratie ist noch nicht geschlagen. Auf Präsident Herzog wird Druck ausgeübt, dem neuen Gesetz seine Unterschrift zu verweigern; es wurden bereits mehrere Klagen an das Oberste Gericht eingereicht, mit der Bitte, das Gesetz als verfassungswidrig zu erklären; es sind weitere Proteste und ziviler Widerstand, etwa von Reservist_innen der Armee, oder der Business-Community zu erwarten; und die Histadrut wird sich in den nächsten Tagen durch ihre Gremien grünes Licht für einen Arbeitskampf holen, der bis zu einem Generalstreik führen kann. Sollte die Regierung weitere einseitige Maßnahmen im Bezug auf den Umbau des Rechtssystems durchführen, würde der Gewerkschaftsverband unverzüglich handeln.
Siehe:
Gedenken und Vermächtnis
Zweifelsohne haben die sozialen und politischen Unruhen in Frankreich, die nach einem tödlichen Polizeischuss auf einen 17 Jahre alten Autofahrer arabischer Herkunft bei einer Verkehrskontrolle ausbrachen, tiefere Wurzeln. Selbst wenn die Wut der Demonstrierenden nachvollziehbar ist, muss es auch hier Grenzen geben. Brennende Mülltonnen und gar beschädigte Autos sind eine Sache – nicht angenehm, doch verkraftbar. Gewalt gegen Menschen jedoch – übrigens auch von Seiten der Exekutive – ist jedoch mit den Werten einer funktionierenden Demokratie nicht zu vereinbaren. Zu Protestkundgebungen gehören natürlich auch visuelle Mittel, wie Banner, Pamphlete und auch Graffiti – Schmierungen. Doch auch hier muss es eine rote Linie geben, die nicht überschritten werden darf. Damit ist nicht nur der Inhalt gemeint, sondern auch der Ort. Im Pariser Vorort Nanterre wurde von Demonstranten vor laufender Kamera das Gedenk- und Mahnmal an die Shoah der Juden Frankreichs beschmiert. Unter den Slogans war auch der Satz “Polizei – wir machen euch eine Shoah” zu lesen. Diese Aktion führte zu heftigen Reaktionen in der jüdischen Welt, innerhalb und außerhalb Israels. Siehe etwa die Stellungnahme des European Jewish Congress https://eurojewcong.org/news/communities-news/france/memorial-to-holocaust-victims-defaced-during-riots-in-france/ .
78.000 Juden, das entspricht etwa einem Viertel der Juden Frankreichs wurden in der Shoah ermordet – die meisten davon in den Vernichtungslagern im Osten.
Die Angst, dass die Erinnerung an die Shoah in weite Ferne rückt, und bald ganz aus dem Bewusstsein verdrängt wird, nimmt mit dem Ableben der letzten Überlebenden zu. Es stellt sich also die Frage – was tun, um auch in Zukunft zu gedenken? Führende Institute arbeiten seit vielen Jahren daran, Zeitzeugen zu interviewen, und etwa Video-Datenbanken anzulegen. Mit der Öffnung Osteuropas stiegen die Besucherzahlen in den ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagern drastisch an. Das Museum Ausschwitz-Birkenau etwa besuchten jährlich tausende von Menschen – doch all das änderte sich mit Corona. Das erste Mal seit 1947 blieb das Museum geschlossen, und die 350 ausgebildeten Führer_innen ohne Arbeit. Doch Not macht erfinderisch – israelische Start Up – Unternehmen in Kooperation mit dem Museum startete das digitale Projekt “vor Deinen Augen”. Dabei handelt es sich um eine virtuelle Tour durch die Lager Ausschwitz und Birkenau, die in die ganze Welt live übertragen werden kann. Diese wird inzwischen in sieben Sprachen, darunter auch Deutsch, angeboten. Die 105-minütige Tour beginnt mit einem Film, und danach stellt sich der Guide den bis zu 35 virtuellen Besucher_innen vor. Die Tour beginnt am Platz, wo das Lagerorchester die Märsche abspielen musste, gleich hinter dem berühmt berüchtigten Schriftzug “Arbeit macht frei“. Es ist die Musik des Orchesters zu hören, und überhaupt werden die Erklärungen des Guides von Zeugenaussagen von sieben Überlebenden, Zeichnungen und Fotos begleitet. Doch auch die Schritte des Guides, oder das Öffnen und Schließen der Türen der Baracken und Gaskammern durch ihn, sind deutlich zu hören. Mittels einer Drohne erhält man den Vogelblick auf diese Stätte des Grauens. Es ist, als ob man vor Ort sei, wird immer wieder von den Gruppen betont.
Bislang sind die Reaktionen überaus positiv – mehr als 87 Prozent der virtuellen Besucher_innen gaben an, dass sie sich nun einen physischen Aufenthalt vor Ort wünschten. Doch weit über 99 Prozent der Menschen auf dieser Welt werden niemals die Gelegenheit zu einem physischen Besuch haben – “Vor Deinen Augen” kann diesen wichtigen Ort zu ihnen bringen – nach Südamerika, in den fernen Osten, nach Afrika und auch in die islamische Welt. Das Ziel ist es natürlich auch, das digitale Projekt in den Schulunterricht auf der ganzen Welt zu integrieren.
Die zentrale Frage ist jedoch, was die Überlebenden dieser Hölle über dieses digitale Projekt denken: “Jetzt, wo ich diese Führung selbst miterlebt habe, kann ich beruhigt sterben. Es handelt sich um eine authentische Führung durch Ausschwitz, die wirklich alle wesentlichen Elemente, die diesen Ort ausmachten, miteinander verbindet. Das ist der richtige Weg, die Erinnerung zu bewahren. Alle Menschen müssen wissen, dass etwas Furchtbares geschehen ist, und so etwas nie mehr geschehen darf.“, so Hanna Gofrit, Ausschwitzüberlebende. Siehe
Meilensteine der israelischen-deutschen Beziehungen – Juli
Juli 1965: Botschafteraustausch zwischen Jerusalem und Bonn. Der gebürtige Wiener, Asher Ben Natan, ist erster israelischer Botschafter in der BRD, und der ehemalige Wehrmachtsoffizier Rolf F. Pauls erster deutscher Botschafter in Israel.
8.-12. Juli 1975: Yitzhak Rabin besucht aus Anlass des 10-jährigen Jubiläums der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen als erster amtierender Ministerpräsident die Bundesrepublik.
Juli 1979: Der Bundestag beschließt die Entfristung der Strafverfolgung für Mörder_innen, sodass Naziverbrecher_innen strafrechtlich weiterverfolgt werden können.
4. Juli 1986: Die Minister für Forschung und Wissenschaft Heinz Riesenhuber (CDU) und Gideon Patt (Likud), gründen die Deutsch-Israelische Stiftung für Wissenschaftliche Forschung und Entwicklung (GIF). Beide Länder beteiligen sich mit einem Gründungskapital von insgesamt 150 Millionen DM.
Juli 1990: Ein bereits ausgearbeitetes Abkommen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der DDR und Israel kann auf Grund des fortgeschrittenen Wiedervereinigungsprozesses nun doch nicht unterzeichnet werden.
Juli 1997: Deutschland ist das einzige EU-Land, das sich bei der Abstimmung zu einer der zahllosen UN-Resolutionen zur israelischen Siedlungspolitik der Stimme enthält, und von der arabischen Welt dafür aufs Schärfste kritisiert wird.
15. Juli 1999: Israel verlegt ihre Botschaft von Bonn nach Berlin.
Juli 2006: Außenminister Fischer bezeichnet die Beschießung von Dörfern und Städten in Nordisrael durch die Hezbollah als einen “Existenzkrieg Israels“ – ausgelöst durch Syrien und Iran.
Juli 2011: Laut einer Untersuchung der Ben-Gurion University, ist Bundeskanzlerin Merkel die populärste EU-Politiker_in in Israel. 81 Prozent der Israelis würden gerne der EU beitreten; 68 Prozent unterstützen eine NATO-Mitgliedschaft. Fast zwei Drittel der jüdischen und arabischen Israelis würden eine Stationierung von NATO-Truppen in der Westbank und im Gaza-Streifen befürworten.
Juli 2023 Delegationen:

Histadrut – junge Erwachsene nach Hattingen als Gäste der DGB – Jugend

Histadrut – junge Erwachsene als Gäste des DGB-Bezirks Niedersachsen – Bremen – Sachsen Anhalt
Erstellt mit der Unterstützung von Micky Drill, Vertreter der FES in der Histadrut

Ashes of the past
Responsibility at present
Commitment to the future